Wem gehört eigentlich der öffentliche Raum, bevor er von der Stadt Berlin verschenkt wird an private Unternehmen? Es geschieht mit dem Argument der Arbeitsplätze. Die betroffenen Seiten streiten darüber, wie effektiv das in der Summe ist, oft werden gute Arbeitsplätze dabei zerstört und übelste Service-Sklaven-Jobs wie in der sogenannten “O2-World” geschaffen, wo der für 6,- Angestellte zuerst einen Lächelkurs absolvieren muss und dann unter ständiger Kontrolle sein Gesicht verkauft. Eine andere Frage ist, wie sich der Ausverkauf von öffentlichem Gut auf unsere städtische Lebenskultur auswirkt, deren Tradition zu den erhaltenswerten Errungenschaften der europäischen Geschichte gehört, und die wir uns nicht durch ein paar texanische Freunde aus dem Staubkreis des Bush-Clans wie Herrn Anschutz, dem Investor des O2-Geländes, zerstören lassen dürfen.
Es ist keine Zeit für Zahlenschlachten, aber man sollte sich mal ein paar Phänomene anschauen, die durch diesen für mich nach wie vor unerklärlichen Vorgang des Verkaufens von öffentlichem Raum entstehen – und die in ihrer äußeren Erscheinung nicht lügen können. Zunächst ein scheinbar unbedeutendes Beispiel mitten aus den 1990er Jahren, um zu verdeutlichen, wie lange dieses Prinzip schon herrscht in dieser Stadt.
An der Grenze zwischen Mitte und Prenzlauer Berg, dort wo Choriner Straße und Zionskirchstraße sich kreuzen, war eine der vielen Baulücken. Jemand hat einen Neubau hineingestellt. Er wurde – was schon damals niemanden überraschte – extrem hässlich, nicht im Sinne von: subjektiv hässlich, sondern in dem Sinne, dass man dem Material und der Struktur an jeder Stelle ansieht, dass alle Entscheidungen mit Hilfe eines Taschenrechners und unter Ausschluss mittel- und langfristiger Perspektiven getroffen wurden, eine jener typischen Bauten, die keine Chance haben, jemals lebendig zu wirken, sich in eine bessere Richtung zu entwickeln und langfristig vermietet zu werden, trotz Dachterrasse. Das ist aber normal, so läuft das, wenn einer “professionell” baut, das heißt: nicht für sich selbst, sondern für das Geschäft.
Eine der technisch ungeschickten Geizigkeiten des Gebäudes geht jedoch eindeutig über die private Entscheidung des Bauherrren hinaus. Alle Eckgebäude in diesem Gründerzeitviertel haben abgeschnittene Ecken, so dass an jeder Straßenkreuzung eine gewisse Großzügigkeit entsteht, eine stadtplanerische Maßnahme, die sehr sinnvoll zwischen privatem und öffentlichem Raum vermittelt in Gegenden, die eher eng bebaut sind, ohne repräsentative Plätze oder typische Altstadtstrukturen. Das berühmteste Beispiel für diese Art des Bauens ist das Eixample in Barcelona. Niemals würde hier einem privaten Bauherren erlaubt, das städtebauliche Prinzip zu brechen. Das leuchtet eigentlich jedem unmittelbar ein, das muss nicht erklärt werden. Oder? In Berlin ist das anders. Es ist an dieser Ecke passiert und seither an nahezu jeder neu geschlossenen Baulücke, zuletzt an der Ecke Rosenthaler und Linienstraße. Es tut weh: warum? Wegen ein paar Quadratmetern Spekulationsfläche wird städtebauliche Gestaltung und öffentlicher Raum verschenkt.
In diese unbegreifliche Bevorzugung von einzelnen Privatinteressen gegenüber dem städtischen Ganzen gesellt sich eine noch krassere Beobachtung. Jeder, der den Blick von der Oberbaumbrücke geliebt hat, wurde bekanntlich geärgert dadurch, dass dem Investor einer Mehrzweckhalle, deren Namensrecht sich der Mobilfunkanbieter O2 erworben hat, erlaubt wurde, eine Reklametafel mitten in diese seltene Ansicht der Türme von Mitte zu stellen. Zähneknirschend verzichteten wir fortan auf den öffentlichen Standort Oberbaumbrücke – in der Hoffnung dass sich jemand findet, der das Teil fällt. Das geschah bisher nicht, vielleicht ein Erfolg der drei illegalen Überwachungskameraus auf dem privaten Pfahl. Stattdessen zeigt sich seit April 2009 der O2-Deal mit der Stadt noch mal in einer anderen Dimension. Auf fast allen offiziellen Straßenschildern in Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg und Treptow findet sich ein Hinweispfeil für die O2-World, neben den Hinweisen “Lichtenberg”, “Kreuzberg”, “Schöneberg”, sogar der Zugreisende, der den Ostbahnhof verlässt, wird auf offiziellen DB-Schildern über die Richtung zur Halle informiert.
Ganze Arbeit leisten die Marketingabteilungen der beteiligten Konzerne, soviel steht fest. Hut ab. Man erwartet von Politikern nicht mehr, dass sie das Gesamte im Blick haben. Es ist trist. Eine Stadt wie Berlin ist nicht irgendein Geschäftspartner, eine Hauptstadt Berlin muss klüger sein, raffinierter, weitsichtiger, um verantworten zu können, dass sie dreieinhalb Millionen Bürger direkt und achtzig Millionen indirekt vertritt.
Wie können wir für öffentlichen Raum kämpfen in Zukunft? Ich will keinen Mobilfunkanbieter auf Verkehrsschildern beworben sehen. Ich will keine zugebauten historischen Straßenecken mehr sehen. Hilfe! Tun Sie was!
Das Schlimme ist: scheinbar unschuldige Helden wie Leonard Cohen treten in der “O2-World” auf und merken gar nicht, was sie tun. Oder doch? Perfide: Anschutz besitzt mehrere Sender und Kommunikations-Unternehmen, vielleicht auch die Agentur von Leonard Cohen, seine Plattenfirma und weiß der Teufel was noch. Anschutz ist der US-Berlusconi, nur dass er offiziell keine politische Verantwortung trägt. Er kann vielleicht jemanden wie Cohen geradezu zwingen, in seiner Arena aufzutreten, ein Produkt unter vielen, die hier geschickt auf dem Boden von Friedrichshain-Kreuzberg hin und her geschoben werden. First we take Manhattan, then we take Berlin.
Ich liebe Amerika über alles. Um das zu unterscheiden: es geht nicht um Amerika, es geht um etwas viel Größeres, die Frage der Zukunft. Jean-Luc Godard hat diese Frage schon in den 1960ern gestellt, in seinem Film Alphaville: Wird unser Leben dem Prinzip des Rechners folgen oder dem Prinzip der Intuition? Dem Computer oder der Kunst?
Es gibt einen Satz, den mehrere Schriftsteller für sich beanspruchen, weil er ganz gut ist, Oscar Wilde, Friedrich Nietzsche und Albert Camus, und der vielleicht erklärt, warum die preussische Metropole ihr Kapital köpft. Ein Satz, der das Verzweifeln über die angeblichen Sachzwänge zum Ausdruck bringt, über die “alternativlose” Macht des Faktischen, des Bürokratischen: “Wer keinen Charakter hat, braucht eine Methode.”
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