
Dauer: 74 Minuten
Uraufführung 2017
Kammerspiele München, 26.04.23, mit Videokunst von Christoph Brech. Presse: Ankündigung SZ vom 21.04.23, Rezension SZ vom 27.04.23
Nächste Aufführungen: Okt. 23, Frankfurt, Nov. 23, Augsburg
aus der Live-Aufnahme der UA 2017:
Jewish Chamber Orchestra Munich – Dirigent: Daniel Grossmann – Muffathalle München – Auftragswerk des J.C.O.M. – Neufassung: 2018

Rezensionen: SWR 2 – Deutschlandfunk – Süddeutsche Zeitung
Gesamter Mitschnitt der UA (74′) auf üblichen Streamingdiensten zu finden, Studioaufnahme geplant 2021.

Beschreibung “Nigunim für Orchester”:
Ausgangspunkt von Nigunim ist eine zeit- und ortsspezifische Musik, die para-liturgische Hochzeitsmusik der aschkenasischen Juden im 18. und 19. Jahrhundert; die feierliche Musik des Schtetls.
Eine berühmte Variante dieser Musik ist der sogenannte Klezmer, entstanden im Zuge einer Wiederbelebungsbewegung in den 1970er Jahren in verschiedenen amerikanischen Großstädten. Weniger berühmt ist ihr osteuropäisches, kleinstädtisches Vorbild. Wir wissen, dass dieser Vorläufer orchestral, virtuos und komplex war und bis in die 1880er Jahre Geige und Hackbrett die Hauptinstrumente waren. Und dass er nicht Klezmer hieß. Der Begriff hat sich Anfang der 1980er Jahre für die amerikanische Folk-Variante durchgesetzt.
Die Träger dieser Musik hießen seinerzeit Klezmorim, Instrumentalisten, und bildeten ein eigenes soziales Phänomen. Ihre Musik war konzertant im Unterschied zu den jiddischen Gesängen, aber rituell oder paraliturgisch eingebunden im Unterschied zu höfischen Orchestern. Es handelte sich um eine vielseitige Festtagsmusik, zu der am Hochzeitstag über den Marktplatz prozessiert, am Vorabend im rituellen Bad sinniert, im Elternhaus geweint, die Braut verschleiert, begleitet von finsteren Drohungen über das Wesen der Ehe, zur Chupa marschiert und von der Chupa weggetanzt, schließlich gemeinsam gegessen und ausgelassen getanzt wurde. Der einzige Gesang, der auf einer Hochzeit zu hören war, war der theatrale Sprechgesang des Badchn, eines professionellen Zeremonienmeisters, der im gleichen Maße furchteinflößend wie komisch sein können musste.
Was wir von dieser Musik heute in der Hand haben, abgesehen von den verschiedenen amerikanischen Neu-Interpretationen des 20. Jahrhunderts, ist so viel, als gäbe es von Beethoven nicht mehr als ein paar ausgeschriebene Melodien – wären da nicht einige wenige europäische Grammophonaufnahmen aus Bukarest, Warschau, Odessa oder Istanbul. Sie bilden für uns die Brücke in eine untergegangene Welt. Die Annäherung an diese wenig bekannte orchestrale Musik bleibt subjektiv und spekulativ.
Hintergrund
In der Welt der Klezmorim gab es bei weitem nicht nur dynamische Tanzmusik mit jammernden Klarinetten. Die zu Tisch gespielten Weisen waren in ihrer Virtuosität heiter und schwer zugleich, die musikalischen Meditationen zu bestimmten vorbereitenden Ritualen konnten elegisch und ironisch sein. Ein fester Bestandteil jeder Hochzeit war das Andenken an die Verstorbenen und den Tod selbst, aber auch das Zum-Heulen-Bringen der Braut, die sich jung aus ihrer Familie lösen muss, die Verdeutlichung des Kreislaufes der Dinge, Tod und Neugeburt. Die Hochzeit war weniger Party als heftiges Ritual. Es reichte in seinen Details so weit zurück wie nur Ungeschriebenes es vermag.
Angesichts einer ausgefeilten Musikkultur, die von Berufsmusikern getragen wurde, verschwimmt der Unterschied zwischen Hochkultur und Brauchtum, zwischen kompositorischem Material und interpretatorischer Tiefe. Der Schlüssel liegt im Mysterium der speziellen Hochzeitsform. Sie wird durch die Musik rituell geordnet, emotional angehoben und an ein kulturelles Universum angebunden.
Musik ist eines der relativ leicht transportierbaren Kulturgüter, auch im übertragenen Sinn. Sie kann unterwegs angereichert werden und nimmt an Gewicht nicht zu. Durch ihre Absorbtionsfähigkeit tritt sie der Heimatlosigkeit aktiv entgegen. “Nigunim für Orchester” ist eine Annäherung an diese herumgekommene Musikkultur, die Anfang des 20. Jahrhunderts unterging. Die Komposition bezieht sich mit heutigen Klangmöglichkeiten auf die dialektische Grundhaltung der aschkenasischen Hochzeitsmusik, schwer und leicht als untrennbares Paar zu sehen, zumal im Kontext wichtiger Rituale.
Der Begriff „Nigunim“ bezeichnet Melodien, die ohne Worte auskommen, aber nicht ohne Begeisterung. Vorbild der Annäherung ist die Spielweise berühmter jüdischer Hochzeitsmusiker zum Einen, die auf das Orchester übertragen wird, zum anderen die Physis der Stimme, die in mancher Hinsicht das Maß dieser Instrumentalmusik bildet, insbesondere der freie und alte Gesang des Kantors.
Musikalisch wirft Nigunim einen Blick zurück und von dort auf die Gegenwart. In den Jahren vor dem 2. Weltkrieg hat der Musikwissenschaftler Moshe Beregovsky Melodien von noch lebenden Klezmorim gesammelt. Dabei handelt es sich um Melodien, die infolge einer Kombination aus okzidentalem und orientalem Musikverständnis nicht im Dur-Moll-System aufgehen, sondern eine ambivalente, modale Charakteristik aufweisen, so dass Dynamik und Melancholie musikalisch keinen Widerspruch darstellen, was wiederum auch eine philosophische Haltung transportiert und vielleicht das Wesen einer Hochzeit einfängt.
Ausgehend von diesem Material und einigen seltenen europäischen Grammophondokumenten mit Orchesteraufnahmen aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ging es bei “Nigunim” darum, diese Haltung aufzuspüren und für ein heutiges Orchester zu übersetzen. Die aschkenasische Hochzeitsmusik trägt schon in sich Untergang und Auferstehung, Schwere und Schwerelosigkeit, auch wenn sie als originales Kulturphänomen für immer verloren ist. In einer solchen Annäherung ist sowohl die Kluft als auch ihre Überwindung spürbar.
Zweifel
Wie einer oral überlieferten Musik schreibend gerecht werden, deren markante Gestalt durch individuelle Mikro-Abweichungen von der überlieferten Tonfolge erreicht wird? Was ist der gemeinsame Nenner zwischen den in menschlicher Tiefe gebrochenen Emotionen einer uralten Hochzeitsmusik und der Gebrochenheit jeglicher Emotionalität in der zeitgenössischen Musik? Möglicherweise bestünde der Auftrag dieser Komposition zum Teil darin, „tobende und tosende“ bessarabische Polkas, wie ein Zeitzeuge diese Musik beschrieb, und zeitgenössische Abstraktion eine Stunde lang aufeinandertreffen zu lassen wie Bleimoleküle im Teilchentunnel, bis sich ihr Quellcode aufzulösen beginnt.
Kompositionsidee
Eine erzählerische Konzertform steht im Vordergrund. Die Struktur leitet sich ab vom Ablauf einer Hochzeit im osteuropäischen Schtetl, ein einwöchiges Ritual mit viel Auf und Ab. Grundlage dafür bilden Zeitzeugenberichte. Inseln von „Klezmer“-Ereignissen werden verbunden von einer heutigen Orchester-Klangwelt.
Die Komposition wird dem täglichen Handwerk der Klezmorim entsprechend verstanden als ein Einschreiben von Körperlichkeit oder rauer Stimme in die „Melodien“, dabei aber orchestral denkend und nicht nur vom einzelnen Instrument her.
Nähe und Distanz zugleich schafft der Einsatz eines Grammophons als Musikinstrument. Nicht das Aufgezeichnete wird verwendet, sondern das eigene Geräusch des akustischen Geräts, der eigene Rhythmus des aufgezogenen Motors und der Nadel in der Rille.
Februar 2017