Oper (allgemeine Nachtkritik)

Experimentell gesinnte Opernhäuser geben in etwa alle drei Jahre ein neues Werk in Auftrag. Im Alltag erfüllen sie, genau wie die anderen Häuser, ihre Funktion als Museum für Opernkunst des 17. bis frühen 20. Jahrhunderts. Im Sommer 2009 beispielsweise wurde in Berlin ein neues Werk uraufgeführt. Die Komische Oper flirrte ein wenig. Sympathisch und gekonnt knüpfte die Musiksprache dort an, wo Alban Berg aufgehört hatte, angereichert mit klanglichen und musikdramaturgischen Errungenschaften der letzten fünfzig Jahre. Offen blieb bei all den Anspielungen, wie bewusst die musikalischen Zitate sich auch leitmotivisch auf Bergs Wozzeck bezogen, ob sie also eine subtile Verbindung des Protagonisten dieser Oper mit der Figur des Woyzeck herstellen wollten. Eine solche Verbindung wäre zumindest musikalisch originell, denn Bergs Ansatz ist damals durch die bahnbrechende Sackgasse des Serialismus so gut wie traditionslos geblieben. Man hat den Arien dieser brandneuen Oper ganz gerne zugehört. Eine Frage jedoch übertönte mehr und mehr das feine Tongespinst: Wofür wird diese ganze Mühe aufgewendet? Die Frage wäre durch eine temperamentvollere Regie abgeschwächt, wenn auch nicht beantwortet worden; wenn man beispielsweise Luk Perceval hätte überreden können, die Uraufführung zu inszenieren.
Angeblich gab es mal eine Zeit, als Komponisten getrieben waren von gesellschaftlichen und spirituellen Fragen. Sie schrieben aus Schmerz, suchten oder schwiegen unter noch größeren Schmerzen im Angesicht der Kontingenz. Singen war ein Akt, der einer inneren Spannung entsprang, einer fast krankhaften Stimmung oder Verstimmung. Opern komponieren versteht sich aus dieser Perspektive als existenzieller Akt eines von Sinnlosigkeit getriebenen, liebeskranken, an der Ungerechtigkeit der Welt verzweifelnden Menschen, der Noten aufschreibt für Stimmen, die genau diesen existentiellen Aspekt transportieren können und daher Opernstimmen sind. Dagegen ein Abend wie dieser! Woher kommt die Motivation, all diese Noten zu schreiben? Ein handwerkliches Fest, aber all diese Arbeit ohne den Sinn, der große Kulturverausgabungen legitimiert, nämlich die Arbeit an den offenen Fragen, die auf der Straße herumliegen, uns anschreien, uns fertig machen. Es war eine Oper mitten aus und in einer Gesellschaft, die zufrieden wirkt – und es gibt sicher Schlimmeres als für sich stehende Feinsinnigkeit. Aber wozu?
Im Anschluss an die Premierenfeier bewies ein Verkäufer von Obdachlosenzeitungen, was Feinsinnigkeit noch sein könnte. Keiner kaufte ihm ein Exemplar ab. Wach und anteilnehmend verfolgte er die Sorgen angestrengter Operngäste, die ratlos der Herausforderung gegenüberstanden, vom überdachten Portal aus durch den Sommerregen bis zum Taxistand am Ende der Zeile zu gelangen. Schüchtern hatte er einem Paar um die fünfzig seine abgegriffene Zeitung umsonst angeboten, unaufdringlich, sensibel für die Scheu der anderen. Dann lächelte er verständnisvoll in sich hinein über die von der Dame aufgebrachten Argumente gegenüber ihrem Begleiter, warum ein kurzer Lauf zu den Taxen nicht denkbar sei. Die Schuhe waren kein Teil der Argumentation, zogen aber auch Aufmerksamkeit auf sich. Schließlich, etwa zehn Minuten und einen unterdrückten Ehestreit später, gellte ein Pfiff durch die verregnete Straße. Der Obdachlose hatte eine freie Taxe nahen gesehen. Beherzt sprang er auf die Straße und sicherte den Wagen für das erschöpfte Paar. Stoisch ignorierten sie weiterhin den Andersartigen, als sie an ihm vorbei in das von ihm ergatterte Taxi einstiegen, kein Blick, kein Wort. Zufrieden grinsend über seinen organisatorischen Erfolg kehrte der Obdachlose auf seinen Posten auf den Stufen der Oper zurück.
Ich möchte die wohlmeinenden Produzenten der Oper nicht mit dieser Szene in Verbindung bringen und doch ergänzte sie die Eindrücke im Saal. Ohne Häme deutete sie an, dass es nicht so einfach ist, wie die Opernwelt es sich macht. Ich unterstelle, dass die meisten unvoreingenommenen Besucher das “Falsche” an solchen Opernaufführungen spüren würden. Je nach Selbstbewusstsein würden die einen ihre fehlende Bildung verantwortlich machen, die anderen die Schwäche des Werkes, verantwortlich für das Unbehagen vom ersten Auftritt an. Die aseptischen, künstlichen Figuren karikieren sich selbst, wie sie seit hunderten von Jahren in Opernaufführungen herumkaspern, anstatt ehrlich zu sein, so ehrlich, wie es uns das Theater der letzten dreißig Jahre, aber auch die musikalische Avantgarde der letzten hundert Jahre, Yves, Varèse, Eisler, Cage, Feldman, Xenakis, Nono, Berio, Kagel, usw. oder die Bluesmusik und ihre wenigen legitimen Erben im Pop des 20. Jahrhhunderts gelehrt haben. Was man zu sehen bekommt, sind Abwandlungen anderer Opernfiguren, nicht aber Abwandlungen der Wirklichkeit.
An der Komposition war musikalisch oder technisch nichts auszusetzen. Es gibt Opernkompositionen, die ihre mythische Schärfe immer schon in sich tragen, und andere, wie diese, die dafür einen Regisseur brauchen. Wofür hat denn dieses Land seit den 1950er Jahren das Regietheater in die Opernhäuser geholt und genau diese wichtige Aufgabe geübt? Es wäre sinnlos, einen abstrakten Streit für oder gegen das Regietheater am Opernhaus zu führen, denn die Frage muss Werk für Werk geklärt werden. Eine scharfe Oper braucht keine Regie, die sich in die Partitur schmiert, aber so manche musikhandwerklich spannende Partitur muss übersetzt werden für die Opernbühne, um den mythologischen Anspruch dieses unsagbar teuren kulturellen Raumschiffs zu erfüllen – und es gibt haltungsstarke Regisseure, die das könnten, so viel ist sicher.

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