Würfel in der Luft

Eine Prognose für drei Stimmen, Tasten und Publikum

Das Musiktheaterprojekt behandelt den Konflikt zwischen Einzelschicksal und Statistik.

Welcher Glaube hilft, der an die errechnete Zukunft oder der an die erhoffte?

Video Chor

Video: Skizze der grafischen Chorpartitur für das Publikum
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  1. Unauflösbare Proportionen
  2. Zukunftsvisionen im Vergleich
  3. Xenakis und KI
  4. Alphaville
  5. Das Ende der Kunst
  6. Schwarm
  7. Nachtrag zu 1.

Audio, Partitur

-Entropy for piano #1
-entropy for piano #2

Préface: Statistik ist der Umgang mit unvollständigen, bisherigen Daten. Stochastik ist die mathematische Methode, mit Hilfe von unvollständigen Daten Wahrscheinlichkeiten zu messen und zu bestimmen. Wenn dies automatisiert geschehen soll, kommen Algorithmen zum Einsatz. Sie sind besonders wirkungsvoll, wenn sie so programmiert wurden, dass sie sich selbst korrigieren können, sobald die Konfrontation mit neuen Daten das nahelegt. “Worst Case Scenario” beschäftigt sich mit der Rolle dieser drei Grundbausteine der künstlichen Intelligenz. Die Recherchen münden in einen interaktiven Konzertabend.

Skizzen mit Klavier und Stimmen

-project disclaimer piano #1
-unentzaubert

“Schließlich verwarf er voll Leidenschaft alle Berechnungen…”

Plutarch, zitiert in: wikipedia, alea iacta est

1. Musik und Mathematik


Die Unordnung von Klängen
Es scheint so, als seien wir im Begriff, die Unordnung von Klängen mathematisch beschreiben zu können. Die Ordnung von Klängen mathematisch zu beschreiben ist schon eine zeitlang möglich. Als dies erstmals geschah, im Kontext der pythagoreischen Zahlenlehre des 6. vorchristlichen Jahrhunderts, wurde nicht nur die Musik in Zahlenverhältnissen beschrieben, die sich in denen des Kosmos wiederfanden, sondern sogar die Gefühle. Das heutige statistische Denken schließt sich dieser Idee indirekt an. Mit Hilfe mathematischer Modelle und der gewachsenen Rechenleistung lassen sich manche Gefühlsregungen eines Unbekannten am anderen Ende der Welt genauso detailliert prognostizieren wie klimatische Ereignisse, inklusive möglicher Überraschungen und schwer vorhersehbarer Strukturbrüche. Das ist allerdings eine vor allem quantitative Entwicklung.


Szenario
Wenn etwas bei drei Wiederholungen kein einziges mal, aber bei tausend Wiederholungen achthundert mal passiert, ist es zwar noch kein Naturgesetz, aber kann das Gesetz der Großen Zahl für sich beanspruchen.
Das ändert das Verhältnis von Musik und Mathematik. Mathematik kann nun auch unberechenbare Prozesse handhaben, indem sie unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten hierarchisiert und quantifiziert anhand einer festen Bezugsgröße. Bis vor hundert Jahren zeichnete Mathematik sich dadurch aus, dass sie der Welt die Zeit entzog, genauer gesagt die Entropie und die Zufälligkeit des sich ereignenden Lebens, und den gesamten Rest formalisierte. Durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung wird auch die prozessuale Ebene mathematisch erfassbar.


Diese neue Verbindung von Mathematik (Probabilistik) und Musik ist trügerisch. KI-generierte Musik ist per definitionem wahrscheinliche Musik, selbst dort, wo sie phänomenologisch überrascht. Ihre Produkte erzielen im Moment Achtungserfolge, bleiben aber Beispiele eines Musters, das sich aus der massenhaften Auswertung von Daten ergibt. Musik als Kunstform ist für das Unwahrscheinliche verantwortlich.

Die KI lässt sich nutzen, um etwas wahrscheinlich Überraschendes zu fabrizieren, um es so paradox zu formulieren, wie es ist. Dieses Projekt zielt stattdessen darauf, das Prinzip der KI selbst zu vertonen. Die KI selbst zu vertonen heißt, die vielleicht mächtigsten gesellschaftlichen Akteure unserer Zeit zu einem kompositorischen Thema zu machen. Mit den Mitteln des Musiktheaters können wir die Rolle der Statistik/Stochastik/Algorithmen in unserer Gesellschaft kompositorisch und erzählerisch untersuchen.


Die Vorhersehbarkeit von KI-Produkten gilt natürlich nicht nur für musikalische Anwendungen. Das Institut AlgorithmWatch hat gezielt verschiedene bild-generierende KIs daraufhin untersucht, welche Rollen dabei den Geschlechtern und Hautfarben zugewiesen werden. Das Frappierendste an den Ergebnissen ist die visuelle Stereotypie. Trotzdem kann KI genutzt werden, so wie die klassische Harmonielehre genutzt wurde, damit sich auf ihrer Grundlage Ordnung und Chaos begegnen können, Mathematik und Leben.


Da Stochastik schon an dieser Schnittstelle zwischen Ordnung und Chaos, Mathematik und Leben oder Zeit angesiedelt zu sein scheint, verwischt sie diese Grenze. Sie muss dennoch dem mathematisch nicht Erfassbaren begegnen, um in der Kunst eine Rolle spielen zu können. Ob ein Stück Musik errechnet komplex ist oder mathematisch unauflösbar, hängt davon ab, ob die verwendete Mathematik auf etwas trifft, das jenseits ihrer Gesetze liegt und trotzdem seinen Einfluss auf die Form der Musik beansprucht. Es ist nicht nur im Prinzip ein großer Unterschied, sondern auch in der physischen Form. Wenn wir aus Bachs Musik alles Unberechenbare substrahieren, bleibt ein bleicher Käse übrig, den kein Mensch hören möchte. Durch die Beimischung einer die Mathematik brechenden Mitteilung, einer zu kommunizierenden Idee oder Rätselhaftigkeit, die formal fassbar ist, aber nicht mathematisch, spricht das Werk oder wird lebendig in dem Sinn, dass es ein Eigenleben bekommt. “Spricht das Werk” heißt leider alles und nichts. Mathematik will im besten Fall nichts sagen, sondern das Vorhandene in Zahlen auflösen oder darstellen. Mathematisch nicht auflösbare Proportionen sind komplex auf eine kommunikative Weise. Die dürfen etwas sagen. Wenn dieses zu sagende Etwas in der Musik fehlt, fehlt etwas.
Wer nur KI kann, kann auch das nicht.

Der Unterschied zwischen Struktur und System: Eine Struktur ist sichtbar, aber nicht unbedingt auflösbar, ein System ist in Regeln und Formeln auflösbar, aber nicht unbedingt sichtbar.

Wahrscheinlichkeit wird dabei zu etwas Brisantem. Kann ich die Würde des unberechenbaren Lebens nur erhalten, wenn ich mich am Unwahrscheinlichen orientiere? Wenn ich mir herausnehme, etwas sogenanntes Unvernünftiges zu tun? Wie Antigone als Urmythos dieser Frage? Die Grenzwertigkeit der Möglichkeiten von KI bringt einen unversehens zum Mythos und zu religiösen Fragen. Religion und Kunst haben gemein, dass sie sich am Unwahrscheinlichen orientieren und das Universelle mit dem Singulären zusammenzuführen versuchen. Doch sie unterscheiden sich darin, wie das Unwahrscheinliche darzustellen ist.

Der Rest, der nicht quantitativ formuliert werden kann, ist das qualitative Signifikat, das sich der Künstlichen Intelligenz entzieht, weil es sich durch seine Unberechenbarkeit auszeichnet. Es steht für das, was das mathematische System transzendiert. Das kann das Verhalten von Kupfer und Zinn sein, wenn es behauen wird, das individuelle Schwingungsverhalten einer Messingscheibe. Jeder Schlag mit dem Hämmerchen ändert die Obertonstruktur, bis der erwünschte Klang eines Tamtams erreicht ist.

https://youtu.be/Qz4haB7Aoto (zeigt die Herstellung eines balinesischen Gongs)

Konzert für 50 Windgongs, Hellerau-Europäisches Zentrum der Künste, 2010

Das kann die Verschiebung eines Fensters auf der ursprünglich symmetrisch geplanten Frontseite eines Palazzos sein, weil im Innenraum eine Anpassung nötig war.

“Fenster”, Laboratorio Novamusica Venezia, Italien 2011
Bartók, Der Gefangene

Das kann die Verschiebung des nächsten Taktbeginns sein, weil der zu vertonende Satz zwei Silben mehr hat, weil die sprachliche Struktur es verlangt, der Atem und die musikalische Lebendigkeit nebenbei davon profitiert, diesem Verlangen nachzugeben. Solche Verschiebungen sind keine willkürlichen Regelbrüche, sondern integrieren Notwendigkeiten aus nicht-mathematischen Bereichen.

Es hilft nicht, die Anlage von vorneherein asymmetrisch zu gestalten mit Hilfe einer Asymmetrie-Turingmaschine. Was dabei fehlt ist die Begegnung des Musters mit dem Unmuster, aus der sich die unberechenbare Form ergibt. Symmetrie im weitesten Sinn trifft auf Prosa im weitesten Sinn. Wenn dadurch die Taktwechsel auf eine Art einander folgen, auf die mathematisch niemand gekommen wäre, ist das erreicht, was Musik kann: die Verbindung von mathematischen Mustern mit erzählerischem oder funktionalem Sinn.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung verwischt den Unterschied zwischen dem Unberechenbaren und dem Berechenbaren. Hier kommt Iannis Xenakis ins Spiel. Er hat beides auf einmalige Weise verknüpft, die virtuose mathematische Berechnung mit der erzählerischen Vision. Ob als Mitarbeiter des Architekten Le Corbusier oder als Komponist stochastischer Musik, das Mathematische trifft auf das Funktionale oder Erzählerische. Die Stochastik rechnet das aus, was sich nicht als Muster auf einen Blick erkennen lässt – die Zukunft oder spannungsreiche Fassadenstrukturen. Gegenüber den mittelalterlichen Fassaden Venedigs geben sie sich nicht übersichtlich und erweisen sich nicht erst bei näherem HInsehen als komplex, sondern sind gezielt unübersichtlich.

Doch gerade bei Xenakis ist klar, dass diese ins Zeitliche hinein ragende Mathematik erst in ihrer Begegnung mit etwas Narrativem, ja sogar explizit Mythischem ihre Substanz erhält. Es genügt ein Blick auf die Titel und Hintergründe seiner Werke, um die Rolle des Erzählerischen zu ahnen. Auch die berühmte Fensterstruktur des Klosters La Tourette ist in Auseinandersetzung mit Le Corbusiers Gesamtentwurf entstanden, zweitens in Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Bedürfnissen des Klosterbaus. Inhalt hier im wahrsten Sinne des Wortes.

Wie sich Mythen von Szenarien unterscheiden, so unterscheiden sich Musikwerke von Mustern: durch das Erzählerische oder Funktionale, durch die Auseinandersetzung des zugrundeliegenden Musters mit den Werten oder Haltungen, die es verkörpert, mit der sozialen Realität, wie es ein Hanns Eisler gefordert hätte, zumindest aber mit so etwas wie einem Anliegen oder einer Suche, einem kommunikativen Rest.

Mehr zu Xenakis siehe unter 4. Xenakis und KI

Nachtrag zu 1.

– disclaimer schwarmklavier

2. Zukunftsvisionen im Vergleich

Die Zukunft hat zuletzt ihre Selbstverständlichkeit verloren. Menschen vor uns lebten in einer schizoiden Vorstellung: so könnte es ewig weitergehen, aber wahrscheinlich geht demnächst die Welt unter. Denn Ewigkeit bringt es nicht. Bei uns ist es anders. Wir sind die ersten Generationen, für die sich die Apokalypse aus statistischen Modellen ergibt. Wir bekommen sie täglich schwarz-weiß vorgerechnet und ausformuliert. Bei uns heißt es daher: so kann es nicht ewig weitergehen.

Wenn wir die Menschheitsgeschichte betrachten, fallen zwei typische Entwicklungsmodelle auf: Es geht bergab oder es geht bergauf.

Bergab kurz rekapituliert: Es gab einen Zustand friedlicher Koexistenz und materieller Fülle (Das Goldene Zeitalter, der Garten Eden usw.). Wir haben ihn leider verlassen und seitdem geht es bergab. Wenn wir unten ankommen, ist es für immer vorbei. Oder der ganze Zyklus geht wieder von vorne los.

Bergauf: Wir haben uns aus miserablen Umständen schon relativ weit herausgearbeitet und entwickelt. Es gibt viel, worauf wir aufbauen können, aber richtig gut wird das Leben erst in der Zukunft, wenn wir von den lästigen Plagen erlöst werden. Die konkreten Fortschritts- und Erlösungsszenarien unterscheiden sich in wenigen Varianten dessen, wodurch es besser wird: durch einen plötzlich auftauchenden Erlöser, durch die allmählichen Wirkungen des Sozialismus, durch technologischen Fortschritt oder durch ungebremstes Wachstum solange die Vorräte reichen (der Mensch als pathogener Parasit).

Verbreitet ist auch die Kombination dieser beiden gegensätzlichen Modelle: Durch eine kommunistisch-kapitalistische Verschwörung in Form von übertriebener Einwanderung ist alles Erreichte den Bach hinunter gegangen – aber wenn ihr mich wählt, wird alles wieder so großartig wie damals. Oder: Der Garten Eden ist verloren, aber die Erlösung wartet auf die Gerechten. Wer die Gerechten sind, erfahrt ihr von uns.

Zu diesen drei genannten und immer noch verbreiteten Erzählmustern hat sich die wissenschaftliche Variante gesellt, die sich erst mit Hilfe der Computertechnologie entfalten konnte und dies in dem Maße auch tut, wie die Digitalisierung unserer Gesellschaft fortschreitet. Das wissenschaftliche Szenario ist zum Global Player in den frühen 1970er Jahren geworden.

-tomorrow sketch

3. Xenakis und KI

Über das Mathematische in der Musik

Iannis Xenakis ging in den 1940er Jahren in den Widerstand, entrann dem Tod mehrmals haarscharf und trug lebenslange Blessuren davon. Aus solchen Erfahrungen speiste sich künstlerische Radikalität in der Nachkriegszeit. Seine Generation war bereit, sich der zivilisatorischen Entropie künstlerisch zu stellen und mit der gepflegten klassischen Kunstmusik endgültig zu brechen, die selbst bei Schönbergs Schülern noch nach kostbarem Porzellan aus dem 18. Jahrhundert klang. Genau in diesem Moment tauchte ein neuer Begriff in der Wissenschaft auf: artificial intelligence.

Der konkrete Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen, der Geburtsstunde der K.I. und dem großen Aufbruch in der Kunstmusik, liegt in einem Zweig der Mathematik begründet, der sich mit Plausibilitätshierarchien innerhalb unvorhersehbarer Prozesse beschäftigt: der Stochastik[1].

In der Komposition kann Stochastik dazu dienen Klangmassen zu formen, sehr viele Ereignisse pro Sekunde zu kontrollieren, den Zufall kontrollieren, die Form öffnen. Die Stochastik “rechnet” mit dem Zufall, jedoch nicht mit der Willkür. Was die Musikwelt langfristig überfordern musste, weil es höhere Mathematik einbezieht, so dass Xenakis uns bis heute fast unverarbeitet begegnet, jedenfalls ohne nennenswerte Nachfolge, fordert nun unsere ganze Gesellschaft heraus: das Gesetz der Großen Zahl. Allgegenwärtige Zukunftsszenarien, lebensprägende [2] statistische Methoden, der Durchbruch der Künstlichen Intelligenz. Wieder ist es an der Musik, darauf zu reagieren.

Olivier Messiaen hatte die Frage aufgeworfen, mit welchen Methoden sich die scheinbar unharmonische oder unmathematische Ordnung formen ließe, wie also Musik sich annähernd so formen ließe wie ein Vogelkonzert oder Mückenschwarm. Das hat sein Schüler Xenakis aufgegriffen: wie lässt sich Klanggewirr formen. Er hob Messiaens Umgang mit undurchdringlichen Klangformen auf eine neue Ebene. Bis heute passt er nicht ins Bild der akademischen Musikwelt, deren Paradigma die klassisch-romantische Musikästhetik bleibt, trotz aller Offenheit für die musikalischen Entdeckungen und Negative der letzten hundert Jahre. Kaum jemand hat dieses Paradigma selbstbewusster links liegen lassen als der Quereinsteiger Xenakis. Ein weiterer Grund ist die mathematische Komplexität seiner Methode. Um es so zu machen wie er, braucht es höhere mathematische Weihen.

Xenakis nutzte zum frühest möglichen Zeitpunkt die Stochastik, um extreme Erfahrungen musikalisch klanglich präzise zu formen, Abgründe, Sturm, Chaos Massenbewegungen – diesseits musikalischer Gesetze und so frei wie möglich von ästhetischen Regeln oder unbewussten Formvorstellungen. Er brach dabei radikaler als die meisten Komponisten des 20. Jahrhunderts mit musikalischen Gesetze. Er interessierte sich jedoch nicht für Absichtslosigkeit, wie sein Antipode John Cage, sondern im Gegenteil für genaue Kontrolle selbst bei schier unkontrollierbaren Klangmassen. Xenakis strebte ein Komponieren an, bei dem geometrische Gesetzmäßigkeiten historisch-ästhetische Urteile ersetzen, Geschmack, Gefühl, Tradition, Religion. Er bildet damit die Brücke zwischen Einzelperspektive und Universalität. Am Ende seines Lebens (1921-2001) stimmte Xenakis der These zu, dass nun der Computer das Komponieren übernehmen könne, der Komponist sei ausführender Ingenieur.

Paradoxerweise verdeutlichte er an anderer Stelle, wie entscheidend die letzten Korrekturen waren, nachdem der Rechner seine Ergebnisse ausgespuckt hatte. Auf seiner künstlerischen Suche nach Universalität hat Xenakis einerseits eine Situation vorbereitet, in der computergestütztes, stochastisches Komponieren ohne Autor möglich war und vielleicht auch zunehmend alternativlos, das wird sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen. Jedoch waren seine eigenen Werke andererseits keine Werke ohne Autor. Für ihn war der Computer ein Hilfsmittel und nicht der heimliche Autor. Er brauchte das stochastisch oder geometrisch generierte Material in seiner Auseinandersetzung mit persönlichen und mythischen Erfahrungen, er hat sie spätestens im letzten Arbeitsschritt geformt nach Kriterien wie “klingt gut”, wie ein Bildhauer oder Architekt. Eine Vision für den resultierenden Klang hatte er vor Beginn der Arbeit. Um aber seine Klangvisionen umzusetzen, wollte er nicht den Umweg über eine historisch oder kulturell geformte Musiksprache gehen. Dabei half ihm eine naturwissenschaftliche, statistische Vorgehensweise. Er beerbte die Serialisten, die bereits statistische Methoden zur Organisation musikalischen Materials verwendeten und den Schritt vom expressiven Künstlersubjekt hin zur universellen Musiksprache anpeilten. Doch deren Ergebnis war chronische Unübersichtlichkeit, umso unübersichtlicher, je mehr Parameter statistisch kontrolliert und definiert wurden. Also drehte Xenakis das Prinzip um: wenn es ohnehin unübersichtlich wird, möchte ich die Unübersichtlichkeit wenigstens formen. Das zeichnet Xenakis’ Kompositionen aus: ein detaillierter Formwille, eine klare Formvision gerade im Unterschied zu anderen Komponisten des 20. Jahrhhunderts. Oft war es die Begegnung der mathematisch ausgeklügelten Form mit mythischen Topoi, die letztlich zu einer sprechenden Form führten. Der Ingenieur-Komponist blieb dabei hinter seinen Werken gut erkennbar, mit seiner persönlichen Biographie, Herkunft, Perspektive. Doch er erkannte das Potential der Statistik.

Interessant wird es nun aus unserer Perspektive angesichts einer Welt der organisierten Daten, wenn wir diesen Ansatz mit dem antipodischen der New Yorker Schule verbinden, für den John Cage, Earle Brown und Morton Feldman stehen. Ihnen ging es darum, den Zufall in das Werk zu lassen, ohne ihn zu kontrollieren, zu komponieren ohne Systeme zu Hilfe zu nehmen, sondern entweder die Würfel oder bestimmte Methoden, die Symmetrien und Muster brechen, Unbestimmtheiten in der Notation, die bei jedem Interpreten zu einem anderen Ergebnis führen.



[1] Ein stochastischer Prozess dient zur Modellierung von zufälligen, zeitlich geordneten Vorgängen. Ihr Ziel: Relative Prognosen zu ermöglichen. Als mathematische Disziplin kann sie Ergebnisse modellieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit stimmen, obwohl die Datenlage insuffizient ist. Im Gegensatz zu spekulativen Prognosen geht es in der Stochastik darum, vorhandene Datenfragmente zu einem vollständigen Bild zu erweitern. Spekulation kann sich von den Daten weiter entfernen als die Stochastik, zumindest suggeriert das die Begriffsgeschichte. Heute sind Spekulation und Stochastik sehr nah beieinander, da die Finanzwirtschaft, für die der Begriff meistens gebraucht wird, genau das tut: unsichere Verläufe anhand der vorhandenen Informationen vorherzusagen. Hier kommt die Markteffizienzhypothese ins Spiel, derzufolge alle globalen Geschehnisse sich in den Vorgängen an der Börse abzeichnen, auch lange bevor die jeweiligen Ereignisse als gesichert gelten dürfen. Je dünner die Datenlage, je weiter in der Zukunft die Vorhersage landet, desto riskanter ist die Spekulation. Stochastik riskiert hingegen nichts, sie benennt Wahrscheinlichkeiten nach mathematischen Formeln. Denn dass die Zukunft unvorhersehbar ist, heißt nicht, dass alle Möglichkeiten gleich wahrscheinlich sind.


[2] Gesundheitswesen, Wirtschaft, Naturwissenschaft, Soziologie, Bildung, Umweltforschung, Sport, Unterhaltung, inidividuelle Lebensfragen

4. Alphaville

(ikonische Fragmente des Films werden möglicherweise in der Projektion verwendet)

“Alphaville” (1965) ist ein Autorenfilm von Jean-Luc Godard. Er spielt in einer dystopischen Zukunftsstadt, in der Emotionen und individuelle Gedanken von einem diktatorischen Computersystem namens Alpha 60 unterdrückt werden. Das zentrale KI-System in Alphaville kontrolliert alle Aspekte des Lebens in der Stadt. Es diktiert Logik und Vernunft als oberste Leitprinzipien und eliminiert jede Form von emotionalem Ausdruck oder irrationalem Verhalten. Die Menschen in Alphaville führen ein mechanisches, eintöniges Leben in Abhängigkeit von Technologie und künstlicher Intelligenz. Die KI entfernt systematisch Wörter aus dem Wörterbuch, die mit Emotionen assoziiert werden.

Lemmy Caution, der Protagonist, verkörpert den menschlichen Widerstand gegen das unterdrückerische KI-System. Seine Mission ist es, Alpha 60 zu untergraben und der Stadt ihre Menschlichkeit zurückzugeben. Im Laufe des Films ermutigt Lemmy Natacha von Braun (gespielt von Anna Karina), die Tochter des Schöpfers von Alphaville, ihre Gefühle und ihren Sinn für Individualität wiederzuentdecken.

„Alphaville“ beeinflusste spätere Filme, die sich mit künstlicher Intelligenz und dystopischen Themen beschäftigen. Im Gegensatz zu vielen Science-Fiction-Filmen seiner Zeit verzichtet „Alphaville“ auf Spezialeffekte und verwendet die zeitgenössische Stadtlandschaft von Paris, um die futuristische Stadt darzustellen. Die Themen des Films werden eher durch den visuellen und erzählerischen Stil als durch technische Spektakel betont.

Dies ist die stark gekürzte und leicht redigierte Antwort von chatgpt auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Film Alphaville und der Debatte um Künstliche Intelligenz. Übersetzt mit DeepL.

5. Das Ende der Kunst?

Welche Konsequenzen hat die KI für die Kunst?

Smartphones kriegen trotz allem keine befriedigenden Mondfotos hin. Selbst die sogenannten Flaggschiffe von Apple und Samsung zeigen immer nur einen kleinen hellen Punkt. Nun gibt es ein Modell, das jeden Gratschatten auf der Oberfläche des Mondes haarfein wiedergibt. Dahinter liegt eine zugleich raffinierte und sehr plumpe Fälschung. Das Smartphone greift auf gespeicherte, hochauflösende Mondfotos zurück, die mit HIlfe von KI in die individuellen Mondfotos der Nutzer hineinkopiert werden. (Überlegungen hierzu werden aus kunsthistorischer Perspektive in folgendem Podcast besprochen: https://www.arthistoricum.net/themen/podcasts/arthistocast, Folge 7)

Denken wir das weiter, dann könnte es bald gewöhnlich sein, dass Fotos nicht mehr das einfangen, was aktuell “abgelichtet” wird, sondern eine Collage des aktuellen Ambientes mit gespeicherten idealtypischen Fotoobjekten.

Diese Steigerung führt möglicherweise die Fotografie zurück zu sich selbst, weil es immer schon ein Trug war zu glauben, Fotos seien Abbilder der Realität.

Während eine platonische Kamera sehr bald normal sein wird, eine Kamera, die Idealbilder aus dem Speicher in die mangelhaften Bilder von Wirklichkeit hineinkopiert, eine Kamera, die uns erlaubt, den Moment einzufangen, aber Götter und Ideen in die Gegenstände schlüpfen zu lassen, die diesen Moment ausstaffieren; während die Menschen im Alltagsgebrauch über solche Entwicklungen froh sein werden, spricht nichts dafür, dass Musik und Literatur (und künstlerische Fotografie) von platonischen Collagen nennenswert beeinflusst werden. Wenn, dann indirekt: der literarische Apparat wird befreit von der statistisch schwergewichtigen Hobbyliteratur. Es wird weniger Menschen geben, die sich die Mühe machen, endlich auch einmal selbst einen Krimi zu schreiben, einen Science Fiction Roman oder einen Thriller. Die KI kann es besser. Ähnlich im Fall der Angewandten Musik: Werbeproduktionen brauchen keine Komponisten mehr, kommerzieller Pop kommt auch ohne aus, das funktioniert am besten statistisch. Niemand braucht sich mehr verbiegen, um Geld zu verdienen. Nur: wie dann Geld verdienen? Die Frage bleibt offen.

6. Schwarm

von der Webseite des NABU:

“Ein Star orientiert sich innerhalb des Schwarms die ganze Zeit an bis zu sieben Vögeln in seiner Umgebung. Zu diesen Vögeln versucht er im Flug die immer gleiche Position einzuhalten. Die synchronen, wellenförmigen Bewegungen der fliegenden Stare wirken fast wie ein eigener, gigantischer und nimmermüder Organismus. Die Schwarmbildung schützt Stare vor Angreifern aus der Luft. Greifvögel als natürliche Feinde des Stars haben es so schwer, einen einzelnen Vogel innerhalb des Schwarms zu fixieren. Entscheidend zur Abwehr von Beutegreifern ist daher die synchrone Bewegung der Vögel zur Schwarmmitte.

Der Schwarm erfordert eine präzise Organisation um sich wie ein „Organismus“ zu bewegen. Auch wenn die Flugkoordination im Schwarm noch lange nicht vollständig verstanden ist, scheint es einige Prinzipien zu geben. Einen dauerhaft gleichen Anführer des Schwarmes, der die anderen kommandiert, gibt es nicht. Stattdessen werden häufig die Flugpositionen im Schwarm gewechselt.

Jedes Schwarmmitglied kann ein Flugmanöver initiieren, das dann wie eine Welle den gesamten Schwarm erfasst und durchläuft. Um unentschlossenes Verhalten gerade bei einer Greifvogelattacke zu vermeiden, folgen die Vögel eher Flugbewegungen, die zur Schwarmmitte gerichtet sind. Reaktionen bei solchen Flugmanövern breiten sich sehr schnell aus. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Nachbar zu Nachbar läuft in rund 15 Millisekunden und ist damit dreimal so schnell, wie wenn jeder Vogel individuell auf eine Flugänderung seines Nachbarn reagieren würde. Durch konzentriertes Beobachten von entfernteren Schwarmmitgliedern können Vögel beginnende Richtungsänderungen oder Flugmanöver erahnen, etwa so, wie Fußballfans eine das gesamte Stadion durchlaufende La Ola-Welle erkennen und deren Verlauf koordinieren.

Fazit:
Es sind also mehrere Faktoren, die zum unfallfreien Fliegen im dichten Schwarm beitragen: Angeborene, in der Evolution entwickelte Verhaltensweisen, Konzentration und Beobachtung anderer Schwarmmitglieder und sehr schnelle Reaktionszeiten bei Flugmanövern.”

Text: Dr. Stefan Bosch

7. Nachtrag zu 1.

WordPress schlägt vor, für diese Seite mit Hilfe von KI ein Titelbild zu erstellen. Ich klicke auf “GENERATE” und es erscheint die etwas unregelmäßige Tastatur eines alten Saloon-Klaviers aus naher Perspektive, im Hintergrund ein stiller Saal, ein Fenster.

Es gibt die Option Stichworte hinzuzufügen. Ich nutze das – statistik, stochastik, muster, unscharf, zukunft, prognose, schicksal, szenario, mythos usw. – und klicke auf “GENERATE AGAIN”. Heraus kommt dieses Bild.

Was fehlt dem Ergebnis?

Welt?

Ich kann nicht unterscheiden, ob es mir so vorkommt, dass etwas fehlt, weil ich weiß, dass dieses Bild keinem freien Geist entkrochen ist, oder weil wirklich etwas fehlt. Es könnte auch ganz anderen Regieanweisungen entsprungen sein, zum Beispiel: Wie sähe das Voralpenland nachts bei Vollmond aus, nachdem es in Streifen geschneit hat? – Oder: Sahara, Gerhard Richter, 1984.

– Oder: Unter einer Zebradecke zeichnen sich die Kopfumrisse eines Kampfhundes vage ab.

Let’s try.

Unter einer Viskosedecke mit Zebramuster zeichnen sich die Kopfumrisse eines Kampfhundes vage ab. Die Übergänge zwischen den weißen und schwarzen Feldern sind teilweise leicht verschwommen.”

GENERATE AGAIN

Ergebnis:

Ich muss noch überlegen, ob ich das als Titelbild übernehme.

8. Harmonielehre als Algorithmus?

Ich erzählte kürzlich einem anderen Komponisten von diesem Projekt. Sein Kommentar: “Harmonielehre ist auch ein Algorithmus.” Spontan stimmte ich zu, aber stimmt das? Im nachhinein fällt mir ein Unterschied ein: Harmonielehre ist von einfachen physikalischen Gesetzen abgeleitet, vom Verhalten der schwingenden Saite, die im Verhältnis 1:1 geteilt werden kann, 1:2, 2:3, 3:4 und so weiter. Das Ergebnis ist physikalisch jederzeit wiederholbar und nachvollziehbar. Computergenerierte Musik auf der Basis von Algorithmen ist entkoppelt. Sie ist an die Physik der schwingenden Saite nicht mehr gebunden. So ähnlich wie die Börse seit 1972 nicht mehr an den Goldstandard gebunden ist und sich damit von physikalischer Anbindung überhaupt entkoppelt hat, sozusagen metaphysisch geworden ist, verhält es sich auch mit Algorithmen, die zur Generierung von Musik einsetzbar sind, im Unterschied zu jeder Harmonielehre, die einfache Tonverhältnisse zur Grundlage hat, wie sie der Kehlkopf und die Saite reproduzieren können.

Anders formuliert: Wenn die auf den Naturtönen und dem Verhalten der schwingenden Saite fußende Harmonielehre ein Algorithmus ist, dann ein sehr spezieller: der einzige Algorithmus, der Musik ausgehend von den einfachen Gesetzmäßigkeiten rein physikalischer Tonerzeugung generiert.