Der “Raum ohne Zentrum” ist ein Überbegriff für verschiedene konkrete kompositorische Anordnungen. Sie erfordern eine andere Art des Zuhörens und des Zusammenspiels. Wenn es keine Mitte gibt, gibt es keinen objektiven Bezugspunkt. Für die Beteiligten, Interpreten wie Zuhörer, wird durch die jeweilige Konzertsituation deutlich, dass jede(r) etwas anderes hört. Jede Perspektive ist eine Perspektive innerhalb eines zusammengehörenden Bündels von Perspektiven. Im radikalsten Fall wäre die Komposition genau das: ein Bündel von Perspektiven.
Eine Komposition für einen Raum, dessen Aktionsbereiche visuell nicht von einem Punkt aus organisierbar sind, muss das Verhältnis von zentrischem und lokalem Denken berücksichtigen.
Der Raum ohne Zentrum ist Metapher für eine Perspektive des Denkens. Die Oberfläche der Erde hat kein Zentrum, dennoch gehen wir davon aus, dass dort, wo wir geboren wurden, das Zentrum sei. Im schlimmsten Fall zentrischen Denkens ordnen wir alles, was uns begegnet, in bezug auf dieses subjektive Zentrum ein. Ein beliebiger Punkt wird zum absoluten Nenner nicht nur der Wahrnehmung, sondern auch der eigenen Meinung. Verunsicherte Nationen erheben diese Sichtweise zur Priorität politischen Handelns, zum eigenen Nachteil. Wer seine Peripherie und seine jeweiligen Barbaren nicht kennt, wird in der Auseinandersetzung mit dem so entstandenen schematischen Feind sein blaues Wunder erleben. Sowohl die Psychologie als auch die internationale Politik haben im 20. Jahrhundert sich daran abgearbeitet, die Monozentralität jeder Perspektive aufzulockern, und dennoch erleben wir privat und politisch weiterhin die gravierendsten Folgen zentrischen Denkens.
Was passiert kompositorisch, wenn man sich von Anfang an dafür entscheidet, Musiker so im Raum zu verteilen, dass sie sich nicht sehen können? Ein Raum ohne Zentrum ist tendenziell auch ein Raum ohne Dirigat. Es entstehen möglicherweise mehrere synchrone Schauplätze, der Begriff des Konzerts bricht auf. Der Begriff der Folge im Unterschied zur Schichtung bekommt eine neue Bedeutung für die formale Gestaltung. Seit der “Babylonischen Schleife für großes Ensemble und rotierendes Publikum” (MaerzMusik, 2007) war der Raum ohne Zentrum ein explizites Thema für mich. Er spielte auch in früheren Produktionen in den Sophiensaelen in Berlin eine Rolle. Ein weiterer Raum ohne Zentrum ist das “Konzert für 50 Windgongs und gemischtes Ensemble”.
- “Konzert für 50 Windgongs” (AW Hellerau / Tonlagen Festival, 2010) – english description: Concert for 50 Windgongs
- “Babylonische Schleife für großes Ensemble und rotierendes Publikum” (AW MaerzMusik, 2007)
Räume ohne Zentrum
(Beitrag für das Programmbuch der Maerzmusik 2007)
Die extremen Perspektiven des Fernsehturms sind Ausgangspunkt und Thema der Komposition Babylonische Schleife. Die Sicht über die Stadt ist frei, aber im Innenraum entzieht sich der Salon in einer Windung dem Blick. Große Übersicht und zugleich große Unübersichtlichkeit machen das Drehrestaurant zu einem komplexen Turm- und Konzertsaal, sie wirken sich formbildend auf das Werk aus. Musiker sind im Raum so verteilt, dass es für ihr Zusammenspiel kein Zentrum und keinerlei Abstufung zwischen vorne und hinten gibt, jeder ist erste Reihe, solistisch exponiert in direkter Nähe zum vorbeiziehenden Publikum. Der Fluss der Information verläuft daher dezentral zwischen den einzelnen Gliedern des Ensembles. Für den Zuhörer gilt ähnliches. Durch die Aufstellung in einem Raum ohne Zentrum gibt es keinen konzertanten Gesamtklang oder Leitklang, nur die Summe subjektiver Wahrnehmungen.
Musik in der Kurve
Die Fortbewegung im Kreis hat etwas Fatales. Die Kurve nimmt vorweg, was auf einen zukommt, und ist andererseits ihr eigener Nachhall. Der gekrümmte Verlauf weist deutlich auf eine größere Form, bleibt aber dennoch unüberschaubar. Die Fahrt im ringförmigen Raum ist wie eine Planetenbahn, und damit wie die Zeit selbst, im kleinen Ausschnitt betrachtet linear, im großen zyklisch.
In einem solchen Raum Musik aufzuführen bedeutet, sich dem Spannungsfeld zwischen Raum und Zeit bewusst auszusetzen. Die kreisrunde Ensembleaufstellung hat einen eingebauten Aufschub, es gibt in ihr keinen globalen Zeitpunkt. Das gilt einerseits für die Akustik: Durch die lange Hallzeit von einer Seite zur anderen ist es unmöglich, exakt gleichzeitig einen Schlag zu setzen, für eine der beiden gegenüberliegenden Seiten ist das Ergebnis immer zeitlich verschoben. Es gilt aber auch für die Kommunikation des Zusammenspiels. Die Musiker können im unüberschaubaren Kreis nicht gleichzeitig einsetzen, sie sind visuell isoliert und bilden daher immer eine Folge.
Der einzelne Klang hat lokale und globale Bezüge, es gibt aber keinen gemeinsamen Nenner für das Gesamte. Die Partitur geht von keinerlei Sichtkontakt aus. Sie muss ohne allgemein gleichwertes Zeitsignal, ohne Dirigat auskommen. Die Herausforderung besteht daher in der Organisation des Zusammenspiels, die zwischen lokalen und globalen Schichten wechselt. Aufführungspraktische Fragen vermischen sich mit kompositorischen, da der Raum selbst Thema und Material der Komposition ist. Die Aufstellung begrenzt bewusst die musikalischen Möglichkeiten und öffnet dabei ein neues Intervall: Das lineare und zirkuläre Zusammenspiel der Musiker macht den gemeinsamen Raum und die gemeinsame Zeit als dissonant erfahrbar.
Die Krümmung und das Krumme überhaupt, auch in den Erscheinungen des Lebens, ist ein Hinweis darauf, dass die größere Form unfaßbar ist. So ist auch die Kurve im Konzert zu verstehen. Der Raum bleibt Spekulation, aber die geschlossene Kette des Ensembles entwickelt daraus eine musikalische Form.
Standpunkt Babylon
Die Sehnsucht nach architektonischem Zentrum, nach einem markanten Turm zum Beispiel, wird in dem berühmten biblischen Bericht vom Turmbau zu Babel in Verbindung gebracht mit dem Verlust der gemeinsamen Sprache und der Vereinzelung des Menschen, er liest sich wie der Ursprungsmythos von Sesshaftigkeit, Zentralperspektive und Globalisierung.
Der Turm als Orientierungspunkt einer mehr oder weniger geschlossenen Siedlungsgemeinschaft ist ein auffälliger Schritt aus der Natur in die Geschichte. Einen Turm bauen, noch dazu in nomadischem Land, bedeutet, sich „einen Namen zu machen“, wie es im Alten Testament heißt. Es ist ein neuer Umgang mit Territorium. Interessanterweise wird dieser Schritt von oben radikal bestraft. Das strebsame Volk wird von Gott seiner gemeinsamen Sprache beraubt und über alle Länder verteilt.
Was von dem Wunsch nach Mitte noch übrig ist, lässt sich auf zwei Formeln bringen: Einerseits ist die Geschichte inzwischen voll von Turmvölkern, die sich einen Namen gemacht haben oder machen wollen, der Nationalismus ist weiterhin stark an architektonischen Symbolen interesiert. Andererseits gibt es auf der individuellen Ebene des Menschen nach wie vor die Sehnsucht nach lokalen oder regionalen Zentren, sie wächst vielleicht sogar parallel zur Globalisierung. In den größeren Städten unserer Zeit entsteht ein weltweiter Standard, ein Segen der Globalisierung, dadurch wird aber das alltägliche Leben standortneutral, das heißt auf der ganzen Welt ähnlich – ein großer Preis der Globalisierung. Standardstädte verlieren ihre Funktion als regionale Mitte, sie werden zu globaler Provinz, sobald der Standard woanders festgelegt wird. Gefühlte Mittigkeit verkauft sich entsprechend immer besser, eine Wüste von „Centern“ aller Art breitet sich aus; selbst kommerzielle Klos heißen vorsichtshalber WC-Center. Diese globale Provinzialisierung läuft hinaus auf einen zivilisatorischen Häuserkampf zwischen inhaltlich motivierten Formen der Kultur und inhaltlich neutralem Konsum. Alle Zivilisationen, egal wo, haben so gesehen als gemeinsamen Gegner jene Form von Konsum, die sich nicht als eine neue Form der Kultur darstellt, sondern das Leben als Besuch von Centern organisiert.
Der legendäre Babylonische Turm müsste heute, angesichts der so missglückenden Sehnsucht nach Mitte, weniger für den schmerzhaften Verlust der einen gemeinsamen Sprache stehen, als für die Utopie der dezentralen Vielfalt, der lokalen Orientierung und des sich jeweils erhaltenden Ortes, um nicht alle Kultur als Lokalkolorit eines einzigen, weltweit lückenlosen Einkaufszentrums zu verstehen.
Einige Effekte der Globalisierung geben eine andere Richtung vor, sie homogenisieren die Vielfalt eher, wenn nämlich alltagskulturelle Fragen nicht kompetent vor Ort entschieden werden, sondern von durchsetzungsfähigen Individuen in internationalen Unternehmen, die das Terrain ihres Einflusses nicht mehr überblicken können. Schleichend wird dabei zivilisatorisches Kapital verschenkt.
Die angsteinflößenden Verständnisprobleme zwischen den Kulturen gibt es auch innerhalb von Kulturen, zwischen dem Einzelnen und seiner Kultur und sogar innerhalb der einzelnen Person. Die Spannung zwischen zwei verschiedenen, jeweils lokalen Denkweisen ist aber relativ harmlos gegenüber der Spannung zwischen lokaler und globaler Denkweise, die heute in jedem Winkel der Erde zu spüren ist. Produktiv mit den Spannungen der Andersartigkeit umzugehen, ist vielleicht nur auf lokaler Ebene möglich. Was ist das Lokale?
Das Lokale ist nicht etwa das Reine, in sich identische, sondern es entsteht aus unterschiedlichen Kulturen, die widerspruchsreich ineinander wachsen. Die Globalisierung in ihrer jetzigen Umsetzung fördert dagegen die Ausbreitung inhaltlich neutraler und in sich identischer Lebensorganisation auf egal welche Territorien – Unterschiede und Identitäten werden unvermeidlich geleugnet aus der Überzeugung heraus, man handele zentral, man befände sich in einem Raum mit Zentrum… während das lokale Denken davon ausgeht, dass die Erde rund ist.
Der TV-Turm als zentraler Orientierungspunkt einer sich globalisierenden Stadt, und als Sendemast eines undurchdringlichen Gewirrs aus Sprachen, Bildern und Klängen, steht mit dem babylonischen Thema in Verbindung. Diese städtische Skulptur war mal ein Machtsymbol, ihr skulpturaler Charme besteht darin, dass sie jetzt mitten im Alltag eine machtpolitische Leerstelle in der Stadtlandschaft bildet. Der Turm wird entweder als Wahrzeichen und Ikone gehandelt oder man sieht ihn vor lauter Sichtbarkeit nicht mehr. Die Kugel, die wie ein aufgespießter Planet über den Centern ruht, enthält einen Raum ohne Zentrum. In der „Babylonischen Schleife für großes Ensemble und rotierendes Publikum” ging es darum, ein kompositorisches Modell zu entwickeln, das sich mit der Komplexität dieses Raumes auseinandersetzt, wobei das Hören aufeinander eine große Rolle spielt.
Moritz Gagern