Vergesslichkeit und Gegenwart

Im Musiktheater wird ständig etwas vergessen. Handschuhe, das Programmheft, die Zeit und überhaupt. Wenn es gut läuft, vergesse ich sogar mich selbst. Trotzdem gibt es Grund zur Annahme, dass sowohl Musik als auch Theater gegen Vergesslichkeit helfen.

Wovon hängt es ab, ob wir etwas eher vergessen werden oder eher nicht? Was ist Gegenwart? Was bitte hat, da wir von Musik und Theater sprachen, die Oper mit der Gegenwart zu tun? In Opernhäusern werden Stücke systematisch verewigt: seit Ewigkeiten dieselben. Das ist das Gegenteil von Gegenwart. Kaum ein Werk ist jung und der als jung beschreibbare Teil des Publikums sucht dort vergeblich nach dem Sound der eigenen Generation. Doch bei immer weiter zunehmender Bildschirmzeit in unser aller Leben, in der auch die Zeit selbst verpixelt, insofern dort Schnipsel von Gegenwart einander unverbunden folgen, kann ausgerechnet die Oper Gegenwart schaffen. Das Musiktheater fließt über vor Gegenwart. Daher erlaube ich mir an dieser Stelle einen Versuch darüber, wie sich das Vergessen zu Musik und Theater verhält.

Die Öffnung der Linse

Vergesslichkeit geht einher mit einer verkümmerten Gegenwart. Daran, wieviel Raum die Gegenwart bekommt, entscheidet sich, wie gut wir uns später an etwas erinnern. Im Moment des Wahrnehmens können wir darauf Einfluss nehmen. Präsenz zeichnet sich durch aktive kognitive Beteiligung aus, die Gedanken können mehr oder weniger bei der Sache sein, mit der wir vordergründig beschäftigt sind, aber auch durch emotionale und physische Resonanz. Es hilft, wenn das zu Merkende in uns etwas mitschwingen lässt, etwas mehr. Beim späteren Erinnern lässt sich nicht mehr ändern, wie hoch aufgelöst, wie komplex das zu Erinnernde ursprünglich verknüpft wurde.

Die Frage der Vergesslichkeit führt zu der Frage, wie Gegenwart vorstellbar ist oder welchen Spielraum es gibt, die Gegenwart auszudehnen und das Wahrgenommene höher aufzulösen. Wie Gegenwart vorstellbar ist, kann die Bühne und mehr noch die Musik vermitteln. Gesang kann das Gedächtnis unterstützen – und darstellen.

Die Gegenwart hält nicht still, um von uns untersucht werden zu können. Sie ist vergangen, wenn wir sie ergreifen, ähnlich wie subatomare Materie. Doch der Fluß der Zeit hängt vom Gelände ab, mal schwillt er an und bildet Becken, in denen das Wasser fast zum Stehen kommt, dann wird er wieder schmaler und schießt dahin. Musik kann das gestalten, Gegenwart ausdehnen und beschleunigen, sie spielt mit dem Sekunden- und Minutenzeiger. (Bei Richard Wagner auch mit dem Stundenzeiger. Mit dem ersten Ton der Ouverturen wird unsere Zeitwahrnehmung von einer eigengesetzlichen Zeitstruktur übernommen, es wird angekündigt, gedräut, motivische Brücken entstehen, Verflechtungen und Kontinuitäten werden geschaffen, indem Motive sich überlappen, die vorher getrennt waren, indem etwas sich wiederholt und das Individuelle ineinanderfließt. Auch im weniger dramatischen Musiktheater der Gegenwart beziehen sich Text und Musik aufeinander, genauso Musik und Handlung.) Seit der Errichtung der antiken Theater spannt die Einheit des Schauplatzes in der orchestra und der skene einen Bogen durch Raum und Zeit, eben auch durch den erzählten Raum und die erzählte Zeit. Mit dem Gedächtnis wird jeweils unterschiedlich umgegangen, doch immer sind Brücken im Spiel vom Vergangenen und Zukünftigen ins Gegenwärtige und umgekehrt. Aus der Perspektive solcher Werke ist Gegenwart nicht das, was sich von Vergangenheit und Zukunft unterscheidet, sondern was aus den drei Zeitdimensionen einen organisierten Raum macht. Es gibt nicht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern eine Gegenwart, die mehr oder weniger getränkt ist von Vergangenem und Zukünftigem. Komposition kann verstanden werden als die Gestaltung dieser einen integrativen Zeitebene.

Unser Bewusstsein und unser Gedächtnis hilft dabei. Was unsere Präsenz schmälert – und dadurch unser Gedächtnis einschränkt – ist einerseits die Angewohnheit, Teile unseres Bewusstseins mit anderen Abläufen zu beschäftigen als dem, der im Vordergrund steht. Andererseits schmälert es unsere Präsenz erheblich, ganz in der Gegenwart aufzugehen. Im Idealfall richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das Aktuelle, ohne offene Fragen und ungelöste Probleme im Hintergrund weiter durchzukauen, verknüpfen aber gleichzeitig das Aktuelle gezielt mit Vergangenem und Zukünftigem, emotional und rational, und lassen Erfahrungen sowie Visionen, Ziele oder Befürchtungen mitschwingen. Die Chancen steigen, dass wir uns erinnern werden.

Präsenz richtet unser Handeln, Denken und Fühlen auf dieselbe Tätigkeit und verknüpft sie mit etwas, das bereits bekannt ist und mit etwas, das stattfinden könnte. Weniger Präsenz bedeutet, dass Denken und Handeln sich mit unterschiedlichen Dingen beschäftigen, vielleicht auch das Fühlen, und alle drei Bereiche jeweils eindimensional in der Gegenwart bleiben.

Die Gegenwart ausdehnen heißt, Brücken in verwandte Bereiche des Bewusstseins bauen, indem etwas von der Zukunft und der Vergangenheit in die Gegenwart hineingeholt wird, keine zufälligen Dinge, wie im Internet, zufällig oder algorithmisch zusammengeführt, sondern Vorstellungsinhalte, die mit der Gegenwart und dem zu Merkenden verbunden sind. So wird die Gegenwart eingebettet in zeitlich Abwesendes und dadurch vergrößert oder verbreitert.

Die Kapazitäten, die wir beim alltäglichen Multi-Tasking einsetzen, sind beachtlich und können verwendet werden, um die Gegenwart zu vergrößern. Tätigkeiten am Bildschirm tun das Gegenteil, sie reihen schmale Gegenwarten aneinander, die keinen gemeinsamen Horizont haben. Das Gegenteil einer Bühne. Anstatt unverbundene Parallel-Schauplätze zuzulassen, erweitern performative Erlebnisse den Schauplatz der Gegenwart. Was in ihr stattfindet, reichern wir mit Assoziationen an, mit Gefühlen, Ideen, Bildern, Melodien. 

Das Musiktheater verlängert die Gegenwart. Unabhängig davon, ob es sich um museale oder freie Produktionsbedingungen handelt, schafft die Oper eine Situation, die eine Vorgeschichte haben kann und deren Vorgänge sich nun – mehr oder weniger musikalisch und mehr oder weniger dramatisch – mit Hilfe von Wiederholungen und Verdichtungen erweitern und auf sich selbst beziehen. Anders als bei Romanen kommt bei der Oper die Musik hinzu mit ihrer Fähigkeit anzukündigen, sich auf das eben Gehörte wiederkehrend, kontrastierend oder variierend zu beziehen – und zugleich auf das aufgeführte Thema. Und auf die Gesetze der Welt, Zeit, Raum, Schwerkraft, Leichtigkeit, Bewegung (siehe Das Gewicht der Zeit). 

Hinzu kommt, dass das Musiktheater Inhalte erinnerbar machen muss, weil die Musik und die Szene zutiefst flüchtig sind. Mnemotechniken spielten vor der Erfindung des Buchdrucks eine größere Rolle für die Menschen. Reime, Wiederholungen, Lieder, Rituale dienten dazu, komplexes Wissen präzise erinnerbar zu machen. Erst die Bücher ermöglichten es, auf Reime und Wiederholungen zu verzichten. In ihnen kann nachgeschlagen werden, was dort bleibend geschrieben steht, sie sind ein ausgelagertes Gedächtnis oder eine neue Form der Mnemotechnik, Outsourcing. Sie beinhalten neben der Technik des Erinnerns eine Technik des Vergessens. Was im Buch steht, muss ich nicht auswendig kennen, ich kann es gezielt vergessen.

Wir haben erst mit Hilfe von Büchern das Vergessen gelernt, dann durch Zeitschriften, Zeitungen, das Fernsehen und zuletzt durch handliche Hosentaschencomputer, die einem ausgelagerten individuellen und kollektiven Gedächtnis am nächsten kommen. Jedesmal folgt das Vergessen dem Prinzip der Taschenlampe: Wer im Dunkeln ohne Taschenlampe zurechtkommen muss, sieht rundherum gleichmäßig wenig. Je nachdem, wie dunkel die Dunkelheit ist, öffnen sich die Pupillen langsam immer weiter, bis wir einen Eindruck von unserer Umgebung bekommen und mehr und mehr Details sehen. Dieses Öffnen der Pupillen ist übertragbar auf die oben beschriebene Präsenz. Wird nun eine Taschenlampe angeknipst, werden im Lichtkegel mehr Details sichtbar, außerhalb des Lichtkegels ist dafür alles schwarz. Aufschreibetechniken sind nichts anderes als Taschenlampen der Erinnerung. Etwas wird hervorgehoben und festgehalten, das Ausgeblendete verschwindet umso tiefer im Vergessen. Nach einer Reise bleiben zunächst viele unterschiedliche Erinnerungen. Sehen wir uns in der folgenden Zeit Fotos an, mehrmals, und zeigen sie zusätzlich Freunden und Verwandten, alle paar Jahre gibt es einen Anlass, dann erinnern wir uns bald nur noch an die abgelichteten Momente. Sie bilden den Lichtkegel der medial vermittelten Erinnerung, der Rest ist schwarz. Verzichten wir auf mediale Unterstützung, kann es sein, dass wir uns noch weniger erinnern, weil wir nicht mehr darauf kommen, was wir damals alles getan haben. Es kann aber auch sein, dass wir uns öfter unsere inneren Bilder ansehen und uns umfassender und breiter erinnern, Details und Atmosphären parat haben. Fotos rufen Erinnerungen anders wach als Gerüche, Notizen oder Musik. Jeder Trigger hat seinen eigenen Erinnerungscharakter.

Der Vergleich mit der Taschenlampe verdeutlicht, dass Vergessen eine Fokusfrage ist und damit entweder eine Prioritätenfrage oder Gewohnheit. Was außerhalb des Fokus liegt, vergessen wir. Was außerhalb der eigenen Werte oder der sich verändernden Vorstellbarkeit liegt, vergessen wir ebenfalls. Die Erinnerung hat einen schmalen Lichtkegel, wie ein Richtmikrofon, also ein Mikrofon mit ausgeprägter Richtcharakteristik: es fängt ein, worauf es gerichtet ist; im Gegensatz zu einem Mikrofon mit Nierencharakteristik, das annähernd 360 Grad abdeckt. Es gibt Erinnerungstechniken mit Richtcharakteristik und solche mit Nierencharakteristik. Ein Musiktheater, das aufrütteln möchte, wird alle Möglichkeiten auffahren, nicht in der Vergessenheit zu landen.

Angenommen, die Literatur, die Musik, die Bildende Kunst und das Theater entstanden als Erinnerungstechniken – vieles spricht dafür – , dann wäre das Musiktheater ein Mikrofon mit Nierencharakteristik. Es richtet den Kegel der Aufmerksamkeit mit verlangsamtem Tempo auf eine überschaubare Handlung, bezieht dabei aber möglichst viele Wahrnehmungsformen und Sprachen gleichzeitig mit ein. Die Gleichzeitigkeit der Bühne ist komponiert und wiederholbar. Sie ermöglicht eine geformte Erfahrung von Präsenz. Uns selbst vergessen.


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