Der Spielraum

Naturgesetze dienen der Kunst als Material dafür, Transzendenz herzustellen. Die Schwerkraft beispielsweise ist dazu geeignet, aufgehoben zu werden. Ohne Schwerkraft kein Schweben. 

Naturgesetze und andere Regeln aufzuheben setzt voraus, jenseits ihrer zu wissen, was zu tun ist. Eine beliebige Zeile von Mozarts Musik wäre ein Beispiel dafür. Kunst ist eine Aufführung des freien Willens, wenn freier Wille verstanden wird als die Unterwerfung unter ein Gesetz, das sich keinem anderen Gesetz schuldet.

Mozart arbeitete auf der Grundlage einer durchreglementierten Tonsprache. Durch die antigravitätischen Entscheidungen, die er traf, wurde Mozart zu Mozart – weniger durch die bereits begehbare harmonische Landschaft, in der er dies tat. Rückblickend sind seine Partituren zu großen Teilen harmonisch analysierbar und dennoch lassen sich seine Entscheidungen nicht vorwegnehmen. Was sich am ehesten vorhersagen lässt, ist die Nichterfüllung oder die Erfüllung anderer, größerer Gesetze. Erst das schafft die Transzendenz. 

Ein System kann sich nicht selbst beseitigen. Transzendenz entsteht, wenn es gelingt, sich auf etwas zu beziehen, das außerhalb des Systems steht. Nehmen wir das Leben als systemsprengenden Bezugspunkt. Künstlerische Werke können die kleineren Gesetze, die gesellschaftlichen und die physikalischen, dem größeren Gesetz des Lebens unterwerfen. Die umgekehrten Versuche, das Leben einem Gesetz zu unterwerfen, bleiben erfolglos und richten Leid an. Sie lassen sich zusammenfassen unter dem Maximalbegriff Faschismus.

Das Gesetz des Lebens ist unvorhersehbar. Biologen können den Flug eines Schmetterlings in seiner Gesamtcharakteristik erklären. Es hat seine Bewandtnis, warum er so ungeometrisch durch die Luft flattert, aber er lässt sich im Detail nicht vorwegnehmen. Dabei ist das genetische Programm, das zu diesem Flug führt, relativ einfach. Die Flugbahn eines Schmetterlings wirkt in dem Maße lebendig, wie in ihr kein Gesetz erkennbar ist. Sie unterliegt einem komplexen, dynamischen System. In diesem Sinne ist die Kunst näher an Natur als an Kultur. Ihre Entscheidungen sind frei, nicht weil sie willkürlich getroffen werden, sondern weil sie sich in ein unvorhersehbares, komplexes System eingliedern, anstatt einem Gesetz zu gehorchen. Kunst wiederholt nicht.

Die Kunst weiß zwar die Kultur zu nutzen, um zu entstehen, aber wenn sie dabei die Kultur nicht durchbricht, bleibt sie Kultur und wird nicht zu Kunst. Der Unterschied ist etwas nicht Auszurechnendes. Er liegt darin, auf der Grundlage eines größeren Zusammenhangs als dem der erkennbaren Gesetze zur antigoneischen Freiheit fähig zu sein, zum gezielten Gesetzesbruch. Wenn Deterministen eines Tages den endgültigen Beweis liefern sollten, dass es keinen freien Willen gibt – in dem Sinne, dass es keinen noch so kleinen Spielraum für autonome Handlungen und Entscheidungen gibt – , dann wäre damit auch die Kunst als Missverständnis entlarvt. Aber das Entscheidende ist, dass dabei Freiheit nicht als Willkür verstanden wird, sondern als Fähigkeit, den Horizont, innerhalb dessen es keine Wahl gibt, selbst zu bestimmen und dadurch die Schwerkraft aufzuheben. 

Das Richtige tun, ohne Gesetze zu befolgen, ist die Definition dessen, was man beklommen Genie nennen möchte, beklommen, weil die Idee des Genies uns heute fremd ist. Dabei bezeichnet er das Menschliche schlechthin. Antigonie ist das Genie. Genie ist das, was passiert, wenn ein Mensch auch in schwierigen Situationen menschlich bleibt, das heißt die begrenzte Reichweite von Regeln erkennt. Wenn der Busfahrer eigenverantwortlich wartet, obwohl er eingebläut bekam, dass die pünktliche Abfahrt grundsätzlich Priorität vor dem einzelnen Fahrgast habe. Wenn der Laden an der Ecke anschreiben lässt. Wenn man zu spät zur Arbeit kommt, weil jemand einen Unfallzeugen brauchte. Wenn Politiker Menschen in Not die Tür öffnen. In der Politik geht es um die Erschaffung und Legitimierung der Gesetze des Zusammenlebens, deswegen hat Genie dort nur in Ausnahmefällen etwas verloren, nicht im Tagesgeschäft. Kreon ist der Politiker, Antigone die Künstlerin. Wenn jemand ohne Unterstützung von Gesetzen das Richtige tut, handelt es sich um Genie. Doch wer sagt, was „das Richtige“ sei? In der Kunst sehen es alle sofort, auf welchen Horizont sich ein Werk bezieht. Die Nachfrage und die Jahrzehnte und die Jahrhunderte misten weiter aus. In der demokratischen Politik und im Rechtsstaat gibt es nicht das Richtige, nur das Mehrheitliche – und das unabhängige Rechtswesen. Ein Genie hat dort per definitionem nichts verloren.

Ganze Völker können ein Genie haben. Auch demokratische übrigens. Italiener haben ein berühmtes Genie in der Alltagsgestaltung. Sie verstehen es auffällig gut, jenseits der Reichweite von Gesetzen das Richtige zu tun, sei es im Verkehr oder in der spontanen Begegnung. Voraussetzung ist auch hier die außerordentlich gute Kenntnis der bestehenden Gesetze. Aber auch die Übung darin, die geschriebenen Gesetze nicht für der Weisheit letzten Schluss zu halten. Italien ist innerhalb der westlichen Ländergemeinschaft nicht das liberalste Land, ungeschriebene Gesetze sind omnipräsent und oft maßgeblicher als die geschriebenen. Für Italien gilt, was Gilles Deleuze bei Prousts Beschreibung der großbürgerlichen Salons herausgearbeitet hat, das Phänomen einer Gesellschaft, die sich über ungeschriebene Gesetze gegen Eindringlinge schützt. Als Sommerkolonie ist diese alte Kultur gezwungen, offen zu sein und zugleich niemanden in den engen Kreis zu lassen. Die Deutschen, die Genie vergöttern, also aus dem Alltag fernhalten, lieben die Italiener, ohne diese Liebe immer richtig zu begreifen. Sie lieben das Augenmaß, das sie zuhause mit allen Mitteln zu verhindern wissen. Das geschriebene Gesetz zu relativieren setzt voraus, dass es einen weiteren Horizont des Handelns gibt, eben ungeschriebene Gesetze. Dazu gehört, bei jedem Gesetzesbruch dem Anderen zuzugestehen, dass er vielleicht einen höheren Grund dafür hatte. So passiert es seltener, dass Minimaldelikte überhaupt Aufmerksamkeit erregen. Nicht so in Deutschland. Ein Fahrradfahrer, der auf der falschen Seite fährt, erzürnt den Münchener bis aufs Blut. Dabei wäre er gerne Italiener. Er erkennt das Augenmaß als die bessere Methode, es wurde ihm selbst aber nicht beigebracht, so wird er nie selbst dazu in der Lage sein.

Genie ist nichts auch nur annähernd Mysteriöses, solange man nicht die schweigende Mehrheit, die Statistik oder die Gesetze und Regeln zum Maßstab des Realen macht. Der Jurist ist das Anti-Genie, vielleicht wird es damit klarer – was nicht bedeutet, dass es unter Juristen keine Genies gibt. Auch im Rechtswesen gibt es viel Spielraum. Aus juristischer Perspektive im engeren Sinne jedoch ist Genie etwas Mysteriöses. 

Die Freiheit der Kunst ist nicht anarchisch, wie beispielsweise die Freiheit des Marktes. Sie ist nicht unreglementiert oder willkürlich. Das gilt sowohl für die Erfindung und Erschaffung eines Werkes, als auch für die Wahrnehmung. Wenn jemand ein Werk erkennt, ist es geboren und produktiv, wie in der Liebe. Ein zu Lebzeiten unerkanntes Dornröschen wird vielleicht in dreitausend Jahren ausgegraben und erkannt. Die Betrachter oder Hörer sind unentbehrlich für Kunst, sie erzeugen ihren Wert. Er wird von allen festgelegt, die sich an der Spekulation beteiligen. Das heißt nicht, dass Kunst den regellosen Finanzmarkt legitimiert, im Gegenteil. Erst durch die Regel kann Kunst als Akt der Freiheit glänzen, genauso kann gelungenes Unternehmertum erst im regulierten Markt glänzen, ebenfalls als Akt der Freiheit.

Das Aufeinandertreffen von Kunst und Betrachter ist komplex. Es erzeugt spekulative und subjektive Werte. Doch unabhängig von dem spekulativ erzeugten Wert gibt es ein objektiv gültiges subjektives Kriterium für Kunst: ob sie Spielraum schafft. Was in der Kunst vermessen wird, ist der Spielraum. 


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